"Verrückte Wolke" (wie Ikkyu sich selbst nannte)

"Viele Wege führen vom Fuß des Berges zur Spitze hinauf. Doch wenn wir am Gipfel angelangt sind, so sehen wir doch alle den gleichen einzigen Mond."
(Ikkyu Sojun, 1394-1481)

Auf den ersten Blick scheint Ikkyu etwas zu sagen gehabt zu haben wie: "Es gibt viele Religionen, aber nur einen Gott." Es steckt aber wesentlich mehr in seiner Aussage.

Schauen wir uns erst einmal die Elemente an: Wege, Berggipfel, Mond.

Dann die Implikationen: Beschreiten der Wege, Aufstieg, Erblicken des Mondes.

Die Wege stehen sowohl für die verschiedenen Religionen, als auch für die verschiedenen Schulen der einzelnen Religionen. Im weitesten Sinne (oder auch: in der absolutesten Bedeutung) für den individuellen Weg jedes einzelnen Menschen.

Der Gipfel und der Aufstieg stehen für die Bemühung beim Beschreiten des Weges und für das benennbare Ziel der Bemühung (und auch für benennbare Zwischenschritte).

Das Erblicken des Mondes steht für Durchbruch, Erleuchtung, Vollendung - mit durchaus weitergehender gradueller Steigerung.

Also: Sinn, um nicht zu sagen Ziel des Berges ist das Sichtbarmachen des Mondes. Zwar wäre der Mond auch grundsätzlich aus dem Tal heraus sichtbar, aber Täler mögen bewaldet sein, bebaut, voller ablenkendem Gewusel. Da fällt es nicht leicht, den Kopf zum Mond hin zu heben. Es gibt aber die Religionen, die zum Besteigen des Berges einladen. Sie vermitteln Wissen. Zumindest Formen von Wissen.

Die Theoretiker bleiben wahrscheinlich schon nach kurzen Strecken in den religiösen Institutionen stecken. Die Was-Wisser noch eher als die Wie-Wisser. Die Praktizierenden steigen weiter hinauf. Die aus ihren Praxiserfahrungen Lernenden steigen noch weiter.

Auch hier gilt, dass der Mond jederzeit gesehen werden kann. Auf jeder Höhe. Es wird aber von Höhe zu Höhe immer leichter und wahrscheinlicher. Weit oben kann der Mond praktisch gar nicht mehr übersehen werden. Selbst wenn man noch nicht ganz den Gipfel erreichte.

Die andere Seite ist, dass man, egal wo man den Mond sieht, trotzdem auf den Gipfel muss. Der Weg muss zurückgelegt werden. Es wird aber leichter, den Weg zu beschreiten, nachdem man den Mond gesehen hat. Trotzdem ist es verlockend, zu denken, man hätte "ES", nur weil man den Mond gesehen hat - und weiter sehen könnte, wenn man wollte.

In Wirklichkeit hat man "ES" aber erst vollständig, wenn man auf dem Gipfel ankommt UND quasi immer den Mond im Blick behält.

Wegen dieser Zweigleisigkeit kommt es zu allen möglichen Missverständnissen. Einmal können die zwei Aspekte für sich als das Ganze verstanden werden. Also mit dem Erreichen eines kirchlichen Ranges etwa (ohne vom Mond mehr als die Theorie zu kennen). Oder wie eben erwähnt, das vielleicht auch nur einmalige Sehen des Mondes mit der Vollendung verwechseln. Und dann natürlich sämtliche Kombinationen von Aufstieg und Mondsicht bezüglich Weghöhe und Mondschauintensität, die wieder als Endpunkte begrifffen werden können.

Dank Ikkyu wissen wir es nun besser.

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Kommentare: 1
  • #1

    Ruth Finder (Montag, 03 September 2018 19:42)

    Ist es nicht interessant, dass Ikkyu vom Mond und nicht von der Sonne redet? Vielleicht, weil wir, auf dem "Gipfel" angelangt, nur den Abglanz des Göttlichen sehen/erreichen. (Erinnern wir uns: die edelsten menschlichen Tugenden sind nur Abglanz der göttlichen.)
    Denn der Mond selbst scheint nicht.