Hans erkennt sein Glück nicht I

Hans hatte seit seiner Geburt fünfzehn Jahre bei seiner Mutter gelebt. Sie hatte allzeit für ihn gesorgt, aber er war zuhause nie ganz zufrieden gewesen. Immer hatte er das Gefühl, dass ihm zu seinem vollen Glück noch eine Kleinigkeit fehle. So zog er schließlich, als er in dem Alter dafür war, in die Welt hinaus, um dort zu suchen, was ihm ermangelte. Nachdem er nun fast seinen ganzen ersten Tag auf Schusters Rappen verbracht hatte, konnte er endlich nur noch mit Mühe weiter gehen und musste jeden Augenblick Halt machen. Schließlich kam er wie eine Schnecke zu einem Feldbrunnen geschlichen, wollte da ruhen und sich mit einem frischen Trunk laben.
Als er später wieder aufbrach und auf seinem Wege durch ein Dorf gekommen war, stand da ein Scherenschleifer mit seinem Karren: sein Rad schnurrte und er sang dazu:
"Ich schleife die Schere und drehe geschwind,
und hänge mein Mäntelchen nach dem Wind."
Hans blieb stehen und sah ihm zu; endlich redete er ihn an und sprach: "Euch gehts wohl, weil ihr so lustig bei eurem Schleifen seid".
"Ja", antwortete der Scherenschleifer, "das Handwerk hat einen güldenen Boden. Ein rechter Schleifer ist ein Mann, der, so oft er in die Tasche greift, auch Geld darin findet. Was aber ist eure Profession?"
"Ich habe keine Profession, wie ihr es nennt. Vielmehr befinde ich mich mit leeren Händen und glückloser Jugend auf einer Reise, meine Profession zu finden."
"Da habt ihr euch wohl zu helfen gewußt", sprach der Schleifer, "könnt ihrs nun dahin bringen, dass ihr das Geld in der Tasche springen hört, wenn ihr aufsteht, so habt ihr euer Glück gemacht."
"Wie soll ich das anfangen?" sprach Hans.
Der Mann besann sich und wollte dem jungen Hans behilflich sein. "Ihr könntet ein Schleifer werden, wie ich; dazu gehört eigentlich nichts als ein Wetzstein, das andere findet sich schon von selbst. Da hab ich einen zweiten, der ist zwar ein wenig schadhaft, dafür sollt ihr mir aber auch nichts geben. ich würde ihn euch schenken; wollt ihr das?"
"Wie könnt ihr noch fragen", antwortete Hans, "ich würde sehr viel glücklicher sein: hätte Geld, so oft ich in die Tasche greife, was brauche ich da länger zu sorgen?"
Der Schleifer nickte, reichte Hans den Wetzstein und sprach: "Nun, nehmt hin und hebt ihn ordentlich auf."
Hans klemmte sich den Schleifstein unter den Arm und zog weiter. Erst überdachte er, wie ihm doch alles nach Wunsch ginge: begegnete ihm jetzt eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich wieder gut gemacht. Dann wurde ihm aber der Stein schwer. Er begann an der Wendung seines Schicksals zu zweifeln und bald hatte er das Gefühl, schlechter dran zu sein als zuvor - und Geld in der Tasche hatte er auch noch keines, denn er zog ja auf einer Landstraße dahin. Viele Kunden fürs Messerschleifen gab es da nicht.
Dann gesellte sich ein Bursch zu ihm, der trug eine schöne weiße Gans unter dem Arm. Sie boten einander die Zeit, und Hans fing an von seinem Unglück zu erzählen und wie er sein unbeschwertes Wandern gegen einen schweren Wetzstein getauscht hätte. Der Bursch sagte ihm, dass er die Gans zu einem Kindtaufschmaus brächte. "Hebt einmal", fuhr er fort und packte sie bei den Flügeln, "wie schwer sie ist, die ist aber auch acht Wochen lang genudelt worden. Wer in den Braten beißt, muss sich das Fett von beiden Seiten abwischen."
"Ja", sprach Hans und wog sie mit der einen Hand, "die hat ihr Gewicht, aber mein Stein wiegt schwerer."
Indessen sah sich der Bursch nach allen Seiten ganz bedenklich um, schüttelte auch wohl mit dem Kopf. "Hört", fing er darauf an, "mit eurem Steine mags nicht so ganz richtig sein. In dem Dorfe, durch das ich gekommen bin, ist eben dem Schulzen einer aus dem Stall gestohlen worden; ich fürchte, ich fürchte ihr habt ihn da in der Hand. Sie haben Leute ausgeschickt, und es wäre ein schlimmer Handel, wenn sie euch mit dem Steine erwischten: das geringste ist, dass ihr ins finstere Loch gesteckt werdet."
Dem guten Hans ward bang: "Ach Gott", sprach er, "helft mir aus der Not, ihr wisst hier herum besser Bescheid, nehmt meinen Stein da und lasst mir eure Gans".
"Ich muss schon etwas aufs Spiel setzen", antwortete der Bursche, "aber ich will doch nicht Schuld sein, dass ihr ins Unglück geratet."
Er nahm den Stein in die Hand, gab Hans die Gans und schritt schnell auf einem Seitenweg fort, der gute Hans aber ging, seiner Sorgen entledigt, mit der Gans unter dem Arme weiter von seiner ehemaligen Heimat fort. "Wenn ichs recht überlege", sprach er mit sich selbst, "habe ich nur Vorteil bei dem Tausch: erstlich den guten Braten, hernach die Menge von Fett, die herausträufeln wird, das gibt Gänsefettbrot auf ein Vierteljahr, und endlich die schönen weißen Federn, die laß ich mir in min Kopfkissen stopfen und darauf will ich wohl ungewiegt einschlafen. An der Gans werde ich eine Freude haben!"

Kommentar schreiben

Kommentare: 0